Illusions - eine ganz besondere Verbindung aus Literatur und Musik
Claudia Hamm und Kaan Bulak nehmen uns mit auf eine Reise in die Welt der Illusionen
Seit einem besonders interessanten Treffen mit dem Lesezirkel im letzten Jahr treibt uns in der Buchhandlung das Thema Autofiktion um. Annie Ernaux ist vielleicht die Mutter der Autofiktion, aber auch unser letzter Stadtschreiber David Wagner schreibt ausschließlich autofiktional. Auch einer der berühmtesten französischen Autoren widmet sich in seinen Büchern dieser Literaturgattung: Emmanuel Carrère. An seinem Beispiel wollen wir Ihnen die Welt der Autofiktion näher bringen und widmen ihr und Carrère gleich zwei Abende. Am Freitag, den 30. September 2022, führt uns Übersetzerin Claudia Hamm durch Carrères Werk und spricht über all die Besonderheiten, die ihn zu einem so großartigen Autoren machen. Am 1. Oktober dann das »Glanzstück« des Jahres: Der junge Komponist Kaan Bulak beehrt uns mit seinem Ensemble und stellt seine neuste Kompsition »Illusions« vor. Wie der Titel schon verrät, beschäftigt er sich mit Realität und Illusion in unserer Welt, genau wie Carrère es in literarischer Form tut. Carrères jüngstes Buch »Yoga« ist, ähnlich wie die expressive und suggestive Musik von Kaan Bulak, eine Kunst, Gegensätze zu versöhnen – was die eigentliche Bedeutung des Sanskrit-Worts »Yoga« ist. Eine wunderbare Mischung aus Literatur und experimenteller Musik.
Autofiktion - erdachte Wirklichkeit
Der Buchmarkt und sein Publikum haben sich geändert. Wollten die Lesenden früher noch ihrem Alltag entfliehen und in Literatur abtauchen, deren Protagonisten ein spannederes Leben führten, verlangt der heutige Leser nach Authentizität, fordert wahre Ereignisse in unserer virtuellen Welt. Die Autofiktion entspringt der Autobiografie. Doch auch diese Literaturgattung ist seit ihrem Entstehen im 18. Jahrhundert keine reine Darstellung wahrer Tatsachen. Damals schon waren die Aufzeichnung gespickt mit »Meinungen« oder »Ansichten«.
Die Selbstbiografie berichtet nicht einfach, sondern lenkt den Text in bestimmte Bahnen. Autobiografische Bekenntnisse, die als Autobiografie durchgehen wie bei Augustinus oder Rousseau, tun das. Beide waren sie Vorbilder für Goethes »Dichtung und Wahrheit«. Schon der Titel verrät, dass Goethe mehr wollte, als nur sein Leben erzählen. Er will eine Dichtung neben der Wahrheit. Die einfache Wirklichkeit seines Lebens wäre zu profan. Denn in dem Moment, in dem er sein Leben niederschreibt, wird es zur Kunst, zu einem höheren Leben. Der Gesamtverlauf des wirklichen Lebens dient ihm als Grundlage, auf der diese höhere Existenz, das Autorenleben, sich aufbaut. Karl Ove Knausgård verfährt ähnlich in seinem fünfbändigen Werk. Der Gedanke hinter seiner Arbeit: man muss die Dinge aufschreiben, erst dann erhalten sie einen Sinn. Das Leben ist weniger banal, wenn darüber geschrieben wird.
Autofiktionale Romane haben etwas gemeinsam: die Offenheit für alle Gattungen. Sie bestehen aus reflexiven und kritischen, epischen und autobiografischen Passagen. Sie werden zu einem offenen Kunstwerk im Sinne Friedrich Schlegels, das sich an keine poetologische Ordnung mehr gebunden fühlt. Erstes Gesetz seiner »Universalpoesie« ist, »dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide«. Die nach allen Seiten offene Form ist das Kennzeichen des Ich-Romans. Man weiß nie, ist das jetzt Prosa, Reflexion oder Poesie. Ein Spiel mit der Wahrnehmung des Lesenden.
Emmanuel Carrère - Ein Meister seines Fachs
Emmanuel Carrère, 1957 in Paris geboren, gilt neben Michel Houellebecq wahrscheinlich als bekanntester Autor Frankreichs. Er lebt als Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmregisseur in Paris. Seine genresprengende Prosa wird in über 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach international ausgezeichnet, z.B. mit dem Prix Renaudot 2011, dem Europäischen Literaturpreis 2013, dem Premio FIL 2017 oder dem Prinzessin-von-Asturien-Preis 2021. Er ist einer der bekanntesten Vertreter des autofiktionalen Erzählens und ein wahres literarisches Ausnahmetalent.
Claudia Hamm - Die deutsche Stimme Carrères
Claudia Hamm, geboren 1969, ist neben ihrer Arbeit aus Literaturübersetzerin auch noch Regisseurin und Autorin von Theatertexten und Essays. Neben den Büchern von Emmanuel Carrère ist sie auch maßgeblich daran beteiligt, dass Autoren wie Mathias Énard, Édouard Levé, Nathalie Quintane, Ivan Jablonka, Joseph Ponthus und Joseph Andras auch in deutscher Sprache erscheinen. Für ihre Übersetzung von Carrères »Das Reich Gottes« wurde sie für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Übersetzerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2016. Durch ihre langjährige Arbeit an und mit Carrères Texten kennt wahrscheinlich kaum jemand sein Werk so gut wie sie.
Kaan Bulak - Klangwelten zwischen Elektronik und Klassik
Komponist, Pianist und Produzent Kaan Bulak wurde 1991 in Aachen geboren, verbrachte seine Kindheit in Istanbul und erlangte sein Abitur in Stuttgart. 2015 beendete Bulak sein Studium mit einem Bachelor of Audio Production. Als Student von Martin Supper für Komposition und Jean-Boris Szymczak vom Funkhaus Studio P4 für Audioproduktion absolvierte er an der Universität der Künste Berlin den Masterstudiengang Sound Studies. Zur Zeit wohnt und arbeitet Bulak in Berlin und führt das audiovisuelle Label Feral Note mit eigenem Studio und Musiksalon. Von 2018-2020 war er Künstler-in-Residenz am ZKM Karlsruhe und erhielt 2019 den Kultur- und Kreativpilot Deutschland von der Bundesregierung für seine Komposition »Feral Note«.
Beeinflusst von seinen beiden Heimatstädten Istanbul und Berlin, fand Bulak zu seiner einzigartigen Art des Komponierens jenseits geografischer oder kultureller Grenzen. Auf der Bühne atmen elektronische Klänge gemeinsam mit Streichern. Elektronik wird in seinen Werken ein akustisches Instrument, die traditionellen Streicher werden dagegen elektronisch bearbeitet.
Er und sein Ensemble sind eine Carte-Blanche für Experimente und ein offenes Format für Uraufführungen neuer Werke, Arrangements alter Musik und die Suche nach Klangwelten inklusive eigens hierfür entwickelter Technologien. Die fünf Musiker fanden sich bei Konzerten von Podium Esslingen und nahmen gemeinsam im ZKM Karlsruhe auf, als Bulak dort Stipendiat war. In dieser Zeit entwarf er ebenfalls den 360° Lautsprecher namens Lynch mit dem Berliner Lautsprecherbauer Martion Audiosysteme, welcher unter dem Flügel und hinter dem Ensemble den einzigartigen elektroakustischen Konzertklang ermöglicht. Zu hören war dieser Klang seit 2018 bislang auf Bühnen wie dem Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie, Beethovenfest Bonn, Schloss Elmau, Mozartfest Würzburg und ZKM Karlsruhe.
Violine: Moritz Ter-Nedden
Viola: Friedemann Slenczka
Cello: Stefan Hadjiev
Kontrabass: Kristina Edin
Klavier & Elektronik: Kaan Bulak
Kommen Sie vorbei!
Wir freuen uns auf zwei Abende voll von Musik und Literatur. Karten für die Veranstaltungen erhalten Sie wie immer bei uns in der Parkbuchhandlung. Weitere Infos zu den Veranstaltungen finden Sie hier. Weitere Infos zum Buch Yoga erhalten Sie hier.
Titelbild Kaan Bulak: ©Kasia Zacharko